Eigentlich sollte der 16. Mai 2020 der große Tag des SV Tübingen in diesem Jahr sein. An diesem Tag wollten die Tübinger Schachfreunde ihr 150-jähriges Bestehen feiern. Dr. Helmut Pfleger war als Ehrengast eingeladen, sollte einen Vortrag über Schach und Religion halten und wollte seine großmeisterlichen Fähigkeiten in einer Simultanvorstellung zeigen. Doch die anhaltende Corona-Pandemie machte auch diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung. Grund zur Freude gibt es aber trotzdem und die große Feier wird baldmöglichst nachgeholt, vielleicht noch im Herbst, vielleicht aber erst im nächsten Jahr.
Der Schachverein Tübingen wurde am 6. Mai 1870 gegründet und liegt in der Rangliste der ältesten noch bestehenden Schachklubs Deutschlands auf Platz 18, hinter dem Schachclub Passau (1869) und vor dem Schachklub Union Eimsbüttel (Hamburg, 1871). Die Gründer des Klubs waren zwölf Studenten, alle Anfang 20. Da man im schwäbischen Tübingen alle Angelegenheiten sehr akkurat behandelt, sind natürlich auch die Namen der zwölf akademischen Schachfreunde noch bekannt. Der Klub wurde unter dem Namen „Akademischer Schachverein Tubingensis“ ins Leben gerufen. Das klingt nach Burschenschaft, vielleicht nach schlagender Verbindung. So etwas Ähnliches war der Klub auch, nur dass man hier ausschließlich Schachsteine schlug. Dreiviertel der zwölf Gründer waren Theologiestudenten. Der aus Basel stammende Schachfreund Paul Hoffman war mit 24 Jahren der älteste der zwölf Gründer, weshalb man ihm wohl die Aufgabe des 1. Vorsitzenden übertrug. Man traf sich in einer Gaststätte, die tatsächlich den Namen „Hades“ (Hafengasse 8) trug. Vielleicht traute sich außer Theologen hier auch niemand hinein. Im „Hades“ wurden Schach-Trainingskurse durchgeführt, Turniere gespielt und man analysierte gemeinsam die damals beliebten Korrespondenz- und Beratungspartien, die man gegen die Schachklubs in anderen Städten austrug. Anfangs war der Klub eine rein studentische Gruppe. 1877 trat der Akademische Schachklub Tübingen dem neu gegründeten Deutschen Schachbund bei, aber erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Klub auch für die nicht-studentische Bevölkerung geöffnet. Inzwischen hatte man sich in den heutigen Namen Schachverein Tübingen umbenannt. Der „Hades“ wurde als Spiellokal verlassen und der Klub residierte ab 1919 im „Ritter“ (Am Stadtgraben 25), ab 1925 in der Braugaststätte Neckarmüllerei (Gartenstraße 4) und in den 1930er Jahren im „Spieß“. Heute hat der SV Tübingen sein Spiellokal im Salzstadel bei der Jakobuskirche (im 1. Obergeschoss).
Bemerkenswerterweise war kein einziger der zwölf Gründer des Schachvereins aus Tübingen gebürtig. Die Studenten stammten aus Berlin, Ostpreußen, Brandenburg, Posen oder anderen Landstrichen Deutschlands. Nur einer kam aus dem nahe gelegenen Stuttgart. Mit seiner 1477 gegründeten Eberhard Karls Universität ist Tübingen eine der ältesten Universitätsstädte in Deutschland. Die Universität genießt auch heute noch einen ausgezeichneten Ruf und ist eine von nur neun deutschen Hochschulen, die weltweit unter den Top 100 Universitäten geführt wird. („Times Higher Education“-Magazin). Von den 90.000 Einwohnern Tübingens sind 26.000 Studenten, was für den Eindruck einer sehr jungen Stadt sorgt. Die jungen Leute kommen nach Tübingen, studieren hier, aber die meisten verlassen die Stadt später auch wieder, kehren in ihrer Heimatorte zurück oder finden ihre berufliche Zukunft anderswo. Zu den zahlreichen spielstarken Studenten, die aber nur zeitweise in Tübingen Schach spielten, gehörte beispielsweise auch der 2016 verstorbene Dr. Gerhard Fahnenschmidt. Er erwarb zwar keinen Schachtitel, war aber zeitweise Nationalspieler und hatte später als Kadertrainer in Stuttgart einen legendären Ruf. Vielleicht ist diese Fluktuation der Grund dafür, warum in Tübingen kaum Spitzenspieler geformt wurden. Das Schachspiel gehörte als anspruchsvolle Entspannung in Tübinger Studentenkreisen zum akademischen Leben dazu, wurde offenbar stets als Nebensache, nicht als Hauptbeschäftigung angesehen.
Im Laufe der langen Geschichte wurde in Tübingen daher auch so gut wie kein großes internationales Turnier organisiert. Es gab allerdings viele Turniere mit regionalem Charakter und besonders stolz ist der SV Tübingen auf die vom Verein seit 1964 durchgeführten Tübinger Stadtmeisterschaften, an denen in guten Jahren etwa 70 Spieler aus der ganzen Region und auch starke Spieler aus dem Schachverband Württemberg teilnahmen. Das einzige internationale Meisterturnier fand vor fast 20 Jahren statt, im Jahr 2001.
Im württembergischen Schach war der SV Tübingen zwar immer eine feste Größe, erreichte aber nie eine Spitzenposition. Das änderte sich, nachdem man 1978 mit einem anderen Schachclub, dem „Schachclub Lange Peitsche Tübingen“ (Der Name spielt auf eine berühmte Variante des Königsgambit an.) fusionierte. Im Jahr 1983 gelang so erstmals der Aufstieg in die Zweite Bundesliga und 1994 schaffte die 1. Mannschaft des SV Tübingen sogar den Aufstieg in die höchste Spielklasse. In der ersten Saison 1994/95 erreichte man mit einheimischen Spielern und Großmeistern aus Tschechien und Ungarn einen fantastischen 5. Platz. Der Motor hinter dem Erfolg war Eckart Schulz und seine Frau, die mit viel Herzblut und persönlichem Engagement den Spielbetrieb der Bundesligamannschaft organisierten. Doch in der nächsten Saison stieg Tübingen wieder ab. Es war die Zeit, wo die Vereine immer mehr ausländische Profis einsetzten und in Tübingen fehlte dafür das Geld.
Zur damaligen Bundesligamannschaft gehörte schon Frank Zeller, der wohl der beste einheimische Tübinger Schachspieler aller Zeiten ist. Er kam 1992 nach Tübingen, ebenfalls als Student, und blieb im Gegensatz zu vielen anderen. 2001 wurde Frank Zeller zum Internationalen Meister ernannt. Beim erwähnten Meisterturnier im Jahr 2001 belegte er den zweiten Platz hinter dem Dortmunder Eckhard Schmittdiel, der eine Zeit lang ebenfalls für Tübingen spielte.
Frank Zeller betätigte sich auch als Schachtrainer und als Publizist und Autor. Und damit kommen wir zu einem Kapitel, in dem sich die Schachfreunde des SV Tübingen besonders hervorgetan haben. Frank Zeller veröffentlichte mehrere Bücher über Eröffnungen, ein Turnierbuch über das Tübinger Meisterturnier von 2001 und zuletzt (2018), zusammen mit Dr. Tim Hagemann ein Werk über „Vergessene Schachmeister“. Mit dem Tübinger Zweitligaspieler Rainer Schlenker gibt es einen weiteren publizistisch sehr aktiven Schachfreund im Verein. Rainer Schlenker hat eine große Leidenschaft für unorthodoxe Eröffnungen und gab für Gleichgesinnte in den 1980er und 1990er Jahren die Zeitschrift „Randspringer“ heraus. Über 70 Ausgaben erschienen, bevor dem Liebhaberwerk die publizistische Puste ausging. Schlenkers Sammlung „quixotischer Eröffnungen“ erfuhr aber kürzlich in der von Manfred Herbold herausgegebenen Reihe „Der Schachtherapeut“ eine Renaissance.
Auf ganz anderem Gebiet ist der Tübinger Historiker Dr. Hans Ellinger aktiv. Der FIDE-Meister, Tübinger Bundesligaspieler und zeitweilig auch Vorsitzende des SV Tübingen interessiert sich vor allem für die Geschichte des Schachs im südwestlichen Teil Deutschlands. Der frühere leitende Oberstaatsanwalt hat im Laufe der Zeit eine umfangreiche und bedeutende Schachbibliothek angelegt und gab dann schließlich selber zu verschiedenen zumeist historischen Themen einige kleinere Schriften von verschiedenen Autoren heraus. Die „Tübinger Beiträge zum Thema Schach“ erscheinen in kleinen Auflagen, sind sehr begehrt und schnell vergriffen. Band zehn ist die Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum des SV Tübingen. Die Informationen zur Geschichte des Vereins sind dort veröffentlicht.
Eine der ersten Originalschriften, die Dr. Ellinger in seiner Sammlung veröffentlichte, ist die Partiensammlung „Jakob Mennel und seine Familie aus dem „Zaiger“ (1510)“. Es handelt sich dabei um ein kleines Manuskript mit Abbildungen und Kommentaren, das von einem gewissen Jakob Mennel geschrieben wurde. Hans Ellinger entdeckte das Manuskript in einer Handschriftensammlung der Universität Tübingen. Die Partien und Kommentare wurden übersetzt und von Ellinger in der Schriftenreihe „Rara“ veröffentlicht.
Die Schriften von Dr. Hans Ellinger haben inzwischen selbst einen gewissen Seltenheitswert und sind für Schachsammler begehrenswert. Schachbücher und historische Werke dieser Art sind nach wie vor ein wichtiger Teil der Schachkultur und bieten einen wertvollen Einblick in die Tradition und Entwicklung des Spiels.